Sie sprechen oft von der „zweiten Chance“. Was hat Ihnen damals den Mut gegeben, nicht aufzugeben? Mut hatte ich damals ehrlich gesagt nicht von Anfang an. Es war eher der Gedanke: Das kann doch nicht alles gewesen sein. Ich wollte zeigen, dass man auch ohne perfekte Voraussetzungen noch etwas erreichen kann. Meine Eltern haben immer hart gearbeitet – das hat mich geprägt. Und ich hatte Menschen um mich, die an mich geglaubt haben, als ich selbst es nicht konnte. Das hat mir den Schub gegeben, nicht aufzugeben. Wichtige Lebensweisheiten: Gib niemals auf! Und nach jedem Tief kommt immer ein Hoch! Wie hat Ihre Zeit als Integrationshelferin Ihr politisches Denken geprägt – und was davon tragen Sie heute in den Bundestag? Diese Zeit hat mich unglaublich verändert. Wenn man jeden Tag mit Menschen zu tun hat, die wirklich kämpfen – um Anerkennung, um ihre Wohnung, um eine Perspektive – dann versteht man, was Politik im Alltag bedeutet. Ich habe gelernt zuzuhören, Geduld zu haben, aber auch, dass gute Worte nichts bringen, wenn die Strukturen nicht stimmen. Heute trage ich diese Erfahrungen mit in den Bundestag – damit politische Entscheidungen nicht an der Lebensrealität vorbeigehen. Sie setzen sich für kostenfreie Schuldenberatung ein. Was war der Auslöser für Ihr Engagement in diesem Bereich? Das Thema Schulden ist in meiner eigenen Familie kein Fremdwort. Ich weiß, wie schnell man da reingeraten kann – oft nicht aus Leichtsinn, sondern weil plötzlich etwas passiert: Job weg, Krankheit, Trennung. Schulden machen etwas mit einem Menschen, sie nehmen einem das Gefühl von Kontrolle. Deshalb kämpfe ich dafür, dass Hilfe keine Frage des Geldes ist. Jeder Mensch hat ein Recht auf einen fairen Neustart – ohne Angst vor Kosten. Viele Menschen in Oberhavel kämpfen mit steigenden Lebenshaltungskosten. Was muss sich Ihrer Meinung nach konkret ändern, damit soziale Gerechtigkeit nicht nur ein Versprechen bleibt? Ich erlebe viele Menschen, die alles geben und trotzdem kaum über die Runden kommen. Wir brauchen endlich eine Politik, die Lebenshaltungskosten nicht nur beobachtet, sondern wirklich anpackt: bezahlbare Energie, faire Mieten, gute Löhne. Und wir müssen die Daseinsvorsorge im ländlichen Raum stärken – von Busverbindungen bis Kitas. Soziale Gerechtigkeit heißt für mich, dass niemand zurückgelassen wird, nur weil er am falschen Ort oder mit dem falschen Konto geboren wurde. Sie sind Mutter in einer Patchworkfamilie mit vier Kindern. Wie gelingt Ihnen der Spagat zwischen Familienleben und Politik – und was wünschen Sie sich politisch für Familien? Ich lebe in einer Patchworkfamilie mit vier Kindern – da ist Organisation alles. Politik ist oft laut und hektisch, zu Hause ist es genauso, nur anders. (lacht) Aber das erdet. Meine Familie erinnert mich jeden Tag daran, worum es eigentlich geht: um echte Lebensqualität, um Zeit füreinander. Ich wünsche mir, dass Familienpolitik endlich mehr auf Alltag schaut – flexible Betreuungszeiten, faire Löhne, und vor allem: dass Care-Arbeit ernst genommen wird. Als Abgeordnete für einen ländlich geprägten Wahlkreis: Wo sehen Sie die größten Herausforderungen für Regionen wie das Mühlenbecker Land? Das Mühlenbecker Land und viele Regionen in Brandenburg haben unglaubliches Potenzial – aber oft fehlt es an Infrastruktur. Busverbindungen, Arztpraxen, Einkaufsmöglichkeiten – das sind keine Luxusfragen, sondern Lebensqualität. Ich will, dass wir wieder dahin kommen, dass das Leben auf dem Land genauso selbstverständlich funktioniert wie in der Stadt. Dafür braucht es politische Priorität, nicht nur Sonntagsreden. Sie haben selbst erlebt, wie es ist, durchs Raster zu fallen. Was sagen Sie jungen Menschen, die gerade nicht wissen, wie es weitergehen soll? Ich weiß, wie sich das anfühlt – wenn man denkt, alles ist vorbei, bevor es richtig angefangen hat. Aber das stimmt nicht. Jeder Umweg ist auch eine Erfahrung. Ich sage jungen Menschen immer: Lass dir von niemandem einreden, dass du es nicht schaffen kannst. Und wenn du mal fällst – steh auf, atme durch, such dir Hilfe. Die zweite Chance wartet nicht auf dich, du musst sie dir nehmen. Im Bundestag arbeiten Sie im Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz. Was bedeutet „Verbraucherschutz“ für Sie persönlich – und warum ist das ein Gerechtigkeitsthema? Für mich ist Verbraucherschutz kein Randthema, sondern ein Stück soziale Sicherheit. Wenn Verträge, Preise oder digitale Angebote so kompliziert sind, dass Menschen den Überblick verlieren, dann ist das keine Freiheit – das ist Abhängigkeit. Politik muss hier auf Seite der Verbraucherinnen und Verbraucher stehen, besonders derjenigen mit wenig Geld. Fairer Verbraucherschutz schützt am Ende die Demokratie, weil er Vertrauen schafft. Sie engagieren sich auch für Gedenkstättenarbeit. Warum ist Erinnerungspolitik für eine soziale Zukunft wichtig? Erinnerungspolitik ist für mich kein Blick zurück, sondern Verantwortung nach vorn. Wenn wir verstehen, wohin Ausgrenzung und Hass führen können, dann erkennen wir, wie wichtig Solidarität heute ist. Ich engagiere mich in der Gedenkstättenarbeit, weil Geschichte lebendig bleiben muss – gerade für die junge Generation. Soziale Politik beginnt mit Empathie, und die entsteht, wenn wir uns erinnern. Was wünschen Sie sich für die politische Kultur in Deutschland – gerade im Umgang mit Menschen, die nicht auf der Sonnenseite stehen? Ich wünsche mir mehr Respekt in der politischen Debatte – und weniger Abwertung. Viele Menschen fühlen sich nicht mehr gehört, und genau da müssen wir ansetzen. Politik darf nicht von oben herab sprechen, sondern auf Augenhöhe. Ich will eine Kultur, in der wir wieder miteinander reden, auch wenn wir uns nicht einig sind. Und in der niemand Angst haben muss, seine Geschichte zu erzählen – egal, auf welcher Seite des Lebens er gerade steht. Interview mit Christin Willnat / 41
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